Die Insel Iwaishima ist ein idyllisches Fleckchen, außer montags: Dann demonstriert ein Teil der Einwohner gegen den Bau eines AKWs in der Nähe. © Sonja Blaschke
Die Insel Iwaishima ist ein idyllisches Fleckchen, außer montags: Dann demonstriert ein Teil der Einwohner gegen den Bau eines AKWs in der Nähe. © Sonja Blaschke

Die Selbstversorgerinsel

(Erschienen in: Japanmarkt, September 2011)

Auf Iwaishima in der Seto-Inlandsee demonstrieren die Anwohner seit 30 Jahren gegen den Bau eines AKWs in unmittelbarer Nähe. Sie wollen weiter in Ruhe, im Einklang mit der Natur leben.

Mit leicht gekrümmtem Rücken, aber steten Schrittes läuft die ältere Dame in ihrer weißen Kittelschürze durch die engen Gassen, die an vielen Stellen so eng sind, dass gerade ein Fahrrad durchpasst. Vorbei an den inseltypischen Mauern aus Naturstein und weißem Mörtel, vorbei an kleinen Gemüsebeeten. Sie kennt den Weg.

Neuankömmlingen auf der Insel Iwaishima hingegen fällt die Orientierung im einzigen Dorf der Insel nicht so leicht. Zum Hafen ging es links, oder? Sich zu verlaufen ist inmitten der sich dicht aneinanderschmiegenden Häuschen kein Kunststück. Wegmarken gibt es erst bei genauerem Hinsehen – hier ein Gestell zum Trocknen von Seetang, da ein Plakat, dort ein Haus mit einem Dach aus fest verleimten Ziegeln, um es sturmsicher zu machen. Auf einem Mauereck sitzt eine kleine Katze, modelliert und bemalt.

„Das Durchschnittsalter der Menschen hier liegt irgendwo bei 80 Jahren“, sagt der Mittfünfziger Tadatoshi Kunihiro, einer der jüngeren Bewohner der nicht einmal acht Quadratkilometer großen Insel vor der Südspitze der Präfektur Yamaguchi südwestlich von Hiroshima. Auch wenn 80 Jahre vielleicht etwas zu hoch gegriffen ist, so sieht man dort viele ausgesprochen aktive Menschen im hohen Rentenalter.

Nur rund zehn Prozent der knapp 500 Einwohner seien jünger als 45, schätzt Kunihiro. Doch es werden mehr. Dafür sorgt auch Familie Nakagawa mit zwei schulpflichtigen Söhnen, die von Osaka auf die Insel gezogen ist. Angezogen vom kritischen Denken und dem Engagement vieler Inselbewohner gegen den Bau eines Atomkraftwerks in unmittelbarer Nähe, aber auch vom einfachen Leben in und mit der Natur.

Dies war auch der Grund für die 36-jährige Takako Yoshikawa, ihre Zelte in Hiroshima abzubrechen und auf die Insel zu ziehen. Sie erinnert sich an ihren ersten Eindruck: „Als ich im Februar 2010 erstmals hierher kam, habe ich eine alte Oma gesehen, die mit einem riesigen Tragegestell voll Holz von den Bergen herunterkam. Das war aber nichts Besonderes, sondern ganz normal! Ich war wirklich sehr beeindruckt.“ Auch das Badewasser wird hier noch mit Brennholz beheizt.

Takako Yoshikawa betreibt mit ihrer „Koiwai Shokudo“ seit November 2010 eine von zwei Gaststätten auf der Insel, macht nur mittags auf und kocht pro Tag für bis zu zehn Personen. Gegessen wird an einem niedrigen Holztisch neben einer Ecke mit Andenken: viel Handgemachtes von der Insel, Tee aus „Biwa“-Blättern oder Handgetöpfertes mit Biwa- und Fischmotiven.

Alles, was sie serviert, stammt von der Insel: der braune Bioreis zum Beispiel von Herrn Kawamura, von Frau Takebayashi die salzig eingelegten Karotten und Herrn Ujimoto das Schweinefleisch für die köstliche Tonjiru-Suppe. Das braune Seegras für das Tempura haben örtliche Fischer geerntet und vier Rentnerinnen in der Morgensonne getrocknet.

Für die Lebensmittel muss die junge Frau oft nichts bezahlen – und das nicht nur, weil sie „von den Omas und Opas verwöhnt werde“. Auf Iwaishima lebt das Prinzip des Tausches weiter: „Wenn ich mit ganzem Einsatz für jemanden etwas mache, dann bekomme ich zum Beispiel zwei Rettiche. Und einen davon gebe ich weiter an die Nachbarin. Die gibt mir dafür einen Fisch. Es ist ein Leben des Austauschs, ein Leben, in dem man wirklich kein Geld braucht“, begeistert sich Yoshikawa.

Sie hat Erfahrung mit dem Restaurantbetrieb, aber auch mit dem Umziehen: Drei Jahre hat sie in Düsseldorf als Kellnerin in einem japanischen Restaurant gearbeitet und dabei Deutsch gelernt. Während des Studiums habe sie ein Jahr in China gewohnt, dann zehn Jahre in Tokyo verbracht. Wie lange sie auf der Insel bleiben will, weiß sie noch nicht: „Ob ich hier für immer bleibe, kann ich nicht sagen, aber ich bin jetzt 36 Jahre alt und ich habe doch das Gefühl, dass ich an einem Ort zur Ruhe kommen will.“ Sie genießt die einzigartige Atmosphäre auf der Insel, das Leben nah an der Natur und das Gemeinschaftsgefühl unter den Bewohnern, von denen sie jeden Tag aufs Neue begeistert sei. „Die Großmütterchen und -väterchen hier sind alle meine Lehrer! Sie zeigen, wie man Dinge selbst herstellt, so wie es im alten Japan gemacht wurde. Ich kann hier ganz viel lernen.“

Takako Yoshikawa war über die Freiwilligen-Organisation WWOOF („World Wide Network of Organic Farms“) nach Iwaishima gekommen und hatte als Freiwillige auf dem Biobauernhof von Choichi Ujimoto im Gegenzug für freie Kost und Logis gearbeitet. Er vermietet ihr jetzt einen Raum für ihr Lokal gegenüber von seinem Haus. Stolz zeigt der Biobauer wie „bio“ selbst die Toilette ist. Ist das der moderne Name für Plumpsklo? Keineswegs. Die Bio-Toilette ist wie geschaffen für Iwaishima, die wie viele Inseln besonders im heißen Sommer mit dem Wasser gut haushalten muss. Darunter ist kein Wasserbecken, sondern eine Torftruhe. Darin treibt ein Generator die „Mischgabel“ an, die den Torf umrührt. Die im Torf enthaltenen Bakterien erledigen dann die Arbeit – völlig geruchlos!

Ujimoto wünscht sich, dass bald nicht nur die Zutaten „made in Iwaishima“ sind, sondern auch die Energie für den Kühlschrank. „Ich plane, einen Sonnenkollektor auf dem Dach anzubringen. Dann brauche ich keinen Strom mehr von Chugoku Electric Power zu beziehen“, sagt er voller Vorfreude. Die Firma ist auf der Insel ähnlich beliebt wie TEPCO derzeit in Tokyo, „wobei die Inselbewohner viel Mitgefühl mit den Angestellten des AKW haben“, so Yoshikawa. Das hält sie jedoch nicht davon ab, sich mit dem Unternehmen anzulegen, bis hin zu Demonstrationen vor dem Hauptsitz in Hiroshima.

Schon seit 30 Jahren gibt es den Plan, nur vier Kilometer Luftlinie entfernt das Atomkraftwerk Kaminoseki zu bauen. Dafür muss im Meer vor dem Baugrund Land aufgeschüttet werden. Bisher stehen aber nur ein paar Fundamente und Mauern am Ufer. Dass dies so ist, liegt an der Antiatomkraftbewegung auf der Insel, die seit 30 Jahren dagegen ankämpft. Darüber sind viele der Bewohner alt, aber keineswegs weniger engagiert geworden – und ihrem Ziel nach der FukushimaKrise so nah wie nie. Kurz danach hieß es zwar noch, dass Chugoku Electric an dem Bauplan festhalte. Doch inzwischen hat der Gouverneur der Präfektur Yamaguchi angekündigt, die Genehmigung für die Erdaufschüttung im Meer nicht zu verlängern. Da der Reaktor darauf gebaut werden soll, kann das Bauprojekt nicht weitergehen.

Dies freut die Inselbewohner wie die Naturschützer, da die sogenannte „Nagashima“-Gegend, in der das AKW liegen würde, zu einer der ursprünglichsten Regionen der Seto-Inlandsee gehört. Dort ziehen unter anderem die vom Aussterben bedrohten Sunameri-Wale, die kleinsten der Welt, ihre Jungen auf. Außerdem finden sich dort seltene Falken- und Fischarten.

Takako Yoshikawa ist zuversichtlich: „Ich glaube nicht, dass das AKW noch gebaut wird. Deswegen bin ich auch hierhergezogen.“ Aber vor allem, weil sie etwas fand, wonach sie lange gesucht hatte: „Ich wollte schon immer ein Leben nah an der Natur führen und habe nach einem Ort gesucht, wo das geht. Man findet zwar Familien, die ganz unabhängig und autark leben, aber dass dies gleich eine ganze Gemeinschaft so macht, das ist das Besondere an dieser Insel.“ Selbst wer die Insel nur kurz besucht, spürt, dass auf Iwaishima etwas anders ist als anderswo in Japan. Da verläuft man sich gerne noch etwas länger im Gewirr der Gassen.