Der vergessene Feuersturm
(Erschienen in: Wiener Zeitung, März 2015)
Eine Augenzeugin über den schlimmsten konventionellen Luftangriff der Geschichte, der 1945 auf Tokio erfolgte.
40 Prozent minderjährige Opfer
“Ich wurde von den Verstorbenen beschützt”, sagt die heute 78-Jährige. Wann immer sie zweifle, müde sei oder aufgeben wolle, fühle sie sich von den Toten dazu gedrängt, weiterzumachen. “Erzähl’ unsere Geschichte”, würden sie zu ihr sagen. Genau das tut Haruyo Nihei seit zwölf Jahren. Die Seniorin gehört zu einer Gruppe von Zeitzeugen, die in Schulen und bei Veranstaltungen von jener Nacht vom 9. auf den 10. März 1945 berichten, als es Feuer auf Tokio regnete. Es war der schlimmste Luftangriff des Zweiten Weltkrieges. Damals wurde ein Viertel von Tokio zerstört, mehr als 100.000 Menschen starben. Sie verbrannten, erstickten oder ertranken, als sie in Panik in den Sumida-Fluss sprangen. Unter den Opfern waren doppelt so viele Frauen wie Männer, fast 40 Prozent waren jünger als 19 Jahre.
Entlang des Sumida-Flusses, wo sich heute Touristen den berühmten Tempel Sensoji ansehen, vom höchsten Fernsehturm der Welt, dem Tokyo Sky Tree, auf die Metropole blicken oder Sumo-Turniere besuchen, standen nach den Brandbomben nur noch ein paar Ruinen. Löschversuche scheiterten. Nihei erinnert sich, dass in der eiskalten Nacht vielerorts das Löschwasser eingefroren war. Ohnehin hätte die Feuerwehr gegen die Macht des Angriffs, die von der US-Luftwaffe bewusst auf ein eng mit Holzhäusern bebautes Gebiet gerichtet war, wenig ausrichten können. In dichter Folge flogen B29-Bomber in niedriger Höhe über die Stadt, stundenlang.
Die “Operation Meetinghouse” sollte, wie schon der verheerende Luftangriff auf Dresden einen Monat vorher, als 25.000 Menschen starben, die Moral der Bevölkerung brechen. Doch der Krieg ging in Japan noch fast ein halbes Jahr weiter. Er kulminierte in den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, bei denen 110.000 Menschen unmittelbar umkamen, Zehntausende in den Monaten danach. Als der japanische Kaiser am 15. August 1945 die Kapitulation per Radio verkündete, sprang Nihei auf, tanzte und klatschte in die Hände. “Endlich keine Luftangriffe mehr!”, habe sie gerufen. Ihr älterer Bruder, militärisch erzogen, habe sie daraufhin geschlagen. Doch die meisten seien erleichtert gewesen.
Obwohl Tokio zum zweiten Mal in kurzer Zeit nach dem Großen Kanto-Beben 1923 dem Erdboden gleichgemacht wurde, ist die Erinnerung daran erstaunlich stark verblasst. “Der Grund dafür, dass man sich trotz des Erinnerungsbooms nicht an die Luftangriffe auf Tokio erinnert, ist das Fehlen einer allgemein bekannten Gedenkstätte und dort durchgeführter Gedenkfeiern”, sagt Sven Saaler, Professor für moderne japanische Geschichte an der Tokioter Sophia-Universität.
Bis heute gibt es in Tokio kein Denkmal, das ausschließlich den Opfern des Luftangriffs vor 70 Jahren gewidmet ist, wie sich Überlebende wie Nihei dies wünschen. Zwar wurde eine solche Gedenkstätte schon diskutiert. Man konnte sich aber nicht auf ein Ausstellungskonzept einigen. Kurz vor der Umsetzung platzte das Vorhaben, als der nationalistische Bürgermeister Shintaro Ishihara 1999 Gouverneur von Tokio wurde. Er war dagegen, dass Experten und Bürger, die das Konzept erstellt hatte, darin auch die japanische Schuld am Krieg darstellen wollten.
Japanischer Revisionismus
Aus den gleichen Gründen ist von Zentralregierung keine entsprechende Initiative zu erwarten. Der amtierende Premierminister Shinzo Abe, dessen Großvater Nobusuke Kishi im Zweiten Weltkrieg eine führende Rolle einnahm, ist als Nationalist bekannt. Kürzlich führte er Moralunterricht ein, der junge Japaner lehren soll, wieder mehr Stolz für ihre Nation zu empfinden. Auch wenn er kürzlich beteuerte, kein Geschichtsrevisionist zu sein, sprechen seine Taten eine andere Sprache. Stets versucht seine Regierung, Japans Rolle im Zweiten Weltkrieg zu beschönigen. Mit Spannung wird daher sein “Abe-Statement” zum Gedenken an das Kriegsende erwartet.
Während Abe über eine “Neuinterpretation” der pazifistischen Nachkriegsverfassung ermöglichte, dass Japan nun Waffen liefern und Soldaten an Krisenherde entsenden darf, arbeitet Haruyo Nihei auf das Gegenteil hin. Sie will Frieden. Die nach dem Krieg Geborenen wie Abe wüssten nicht, was Krieg wirklich bedeute, zum Glück für sie, sagt Nihei. Wenn sie Schülern von ihren Erlebnissen damals erzählt, spart die Seniorin keine Details aus. “Die jungen Menschen kennen Krieg nur aus Computerspielen”, sagt sie. “Wir müssen ihnen sagen, wie schrecklich er ist.”