Blick auf die Hochhäuser im Tokioter Stadtteil Shiodome, im Hintergrund der Fuji © Sonja Blaschke
Blick auf die Hochhäuser im Tokioter Stadtteil Shiodome, im Hintergrund der Fuji © Sonja Blaschke

Das immer gleiche Aufzugtheater

Fast hätte mich wieder so ein Schwarm Büropinguine erwischt, wie immer im Einheits-Outfit: schmale schwarze Hosen, Markenledergürtel, klassische Krawatte und perfekt gebügeltes weißes Hemd unterm schwarzen Jackett. Schon oft stand ich in einem der vielen Tokioter Hochhäuser im Erdgeschoss vor den Aufzügen, hoffend, dass ich dieses Mal alles richtig machen würde. Doch es ist jedes Mal das Gleiche: Ein Gong ertönt, der Lift ist da, die Türen gleiten zur Seite – und im Aufzug stehen die Leute wie angewurzelt da. Bewegungslos. Sekundenlang. Und ich kriege die Krise.

Auch nach neun Jahren in Japan schramme ich beim Aufzugfahren häufig haarscharf an einem Frontalzusammenstoß vorbei. Denn obwohl die Türen sperrangelweit offen stehen, bewegt sich keiner der Insassen! „Aha, die fahren weiter“, denke ich jedes Mal, spanne Po- und Beinmuskeln an, verlagere mein Gewicht nach vorne und will in den Fahrstuhl steigen – als ein Ruck durch die Gruppe geht. Die wollen also doch aussteigen! Plötzlich stehe ich im Weg, Aug’ in Aug’ mit dem ungekürten Anführer der Aufzugfahrer. Ich bringe gerade noch ein leises „Sumimasen“ (sorry) heraus und verhindere nur durch ein blitzschnelles Ausweichmanöver in letzter Sekunde eine Kollision. Leider nicht sonderlich elegant.

Warum dieses immer gleiche Theater? Weil Aussteigen in Japan nicht so einfach ist, wie man denken könnte. Man muss die Hierarchie der Mitfahrer analysieren, sich selbst richtig in die Rangordnung einteilen, darf sich auf keinen Fall vor Ranghöheren aus dem Lift bewegen. Zu gern würde ich die inneren Monologe der Japaner hören: „Der trägt so eine schicke Uhr, die war sicher teuer. Bestimmt ist er Abteilungsleiter. Ein Wichtiger! Den bitte ich mal lieber vor mir hinaus.“ Arbeitskollegen streiten sich fast darum, wer den Chef hinauskomplimentieren darf. „Dozo, dozo, Chef, bitte gehen Sie vor!“, sagen sie ohne Unterlass, verbeugen sich dabei ohne Unterlass und weisen, ebenfalls ohne Unterlass, mit der Hand aufs Tor zur Freiheit.

Hat man es dann irgendwann doch noch in den Lift geschafft und auf das Knöpfchen gedrückt, ist das Aufzugkammerspiel noch längst nicht vorbei. Denn an jedem Halt kommt es zu Unterbrechungen durch „Wir verabschieden uns von Geschäftspartnern am Fahrstuhl“-Zeremonien. Draußen und drinnen wird sich dann x-mal verbeugt, so lange, bis die Türen zu sind und alle erleichtert aufatmen. Kein Spaß, dieses Büropinguinleben.

Doch nicht nur Japaner leiden unter den Liftsitten. Auch Touristen, gerade die Neuankömmlinge unter ihnen, sind beim Aufzugfahren häufig überfordert. Denn japanische Fahrstühle haben oft keine Lichtschranke und schließen sich deutlich schneller als anderswo. Wer das nicht beachtet, läuft Gefahr, blaue Flecken davonzutragen. Das prägt: 2007 traf ich bei einer Reise nach London einen ehemaligen halbjapanischen Kollegen, der beide Welten kennt. „Haha, du machst das also auch!“, rief er nach einer gemeinsamen Aufzugfahrt. „Du hast die Hand vor die Lifttür gehalten, damit sie nicht zugeht, bevor ich auch drin bin.“ Und damals war ich erst eineinhalb Jahre in Japan. Aber ich halte nicht nur regelmäßig die Hand vor die Lifttür. Gern drücke ich auch die „Tür öffnen“-Taste. Dumm bloß, dass sich die japanischen Schriftzeichen für „Tür öffnen“ und „Tür schließen“ zum Verwechseln ähnlich sehen.