Die Politikerin Mizuho Fukushima ist bekannt für ihr Engagement gegen Diskriminierung. © Sonja Blaschke
Die Politikerin Mizuho Fukushima ist bekannt für ihr Engagement gegen Diskriminierung. © Sonja Blaschke

Japans gläserne Decke

(Erschienen in: Neue Zürcher Zeitung, November 2013)

Die Regierung will mehr Frauen ins Berufsleben bringen, doch die Voraussetzungen dafür sind schwierig.

Für Japans Frauen bedeutet die Hochzeit oft das Ende der beruflichen Karriere. Wer sich höhere Ziele setzt, kämpft mit den Ritualen einer männerdominierten Welt und dem Unverständnis von Geschlechtsgenossinnen.

Als Yuriko Suzukis Kollegen hörten, dass sie die Firma verlassen werde, überboten sie sich mit ihren Glückwünschen zur baldigen Hochzeit. Ob sie schwanger sei. Andere Gründe, warum die 41-Jährige das Unternehmen verlässt, konnten sie sich nicht vorstellen. Die Wahrheit sah anders aus: Weil die Firma Kosten sparen wollte, hatte sie Suzuki nach drei Jahren durch eine billigere, schlechter qualifizierte Arbeitskraft ersetzt. Damit nicht genug: Tags zuvor hatte ihr Freund, bei dem sie wohnte, die Beziehung beendet. Innerhalb zweier Tage war sie Wohnung, Partner und Job los. Eine Katastrophe für eine Japanerin um die 40. Denn dann ist der Zug abgefahren, beruflich und privat. Abends bei einem Glas Wein erzählte sie laut lachend von den fehlgeleiteten Glückwünschen. So macht man das in Japan, wenn man Trauriges oder Unangenehmes loswerden, aber nicht die Gesprächsatmosphäre belasten will.

Fast unsichtbar

Drei Jahre hatte Suzuki jeden Monat gebangt: Würde sie endlich eine Festanstellung und damit mehr Gehalt und Sicherheit bekommen? Eine Abfindung ist für Leihpersonal wie Suzuki nicht vorgesehen. 35 Prozent der berufstätigen Frauen in Japan sind bei Leiharbeitsfirmen angestellt, aber nur 10 Prozent der Männer, heisst es im jüngsten «Gender Gap Report» des Weltwirtschaftsforums. Er bewertet die Lücke zwischen Männern und Frauen in 136 Ländern. Japan verlor 2012 vier Plätze und landete nur noch auf Platz 105.

Schuld an der schlechten Placierung der führenden Industrienation ist die Unsichtbarkeit der Japanerinnen auf dem Arbeitsmarkt und in der Politik. Nur vier Prozent haben Führungspositionen in an der Börse kotierten Firmen inne, lediglich acht Prozent sitzen im Parlament. Unter solchen Umständen scheint das Ziel der Regierung, bis 2020 30 Prozent Frauen in Managementpositionen zu haben, unerreichbar. Zwar wird Ministerpräsident Shinzo Abe nicht müde, zu erklären, dass er Frauen fördern wolle. Er möchte zum Beispiel Firmen überzeugen, drei Jahre Mutterschaftsurlaub zu geben. Frauenverbände unterstellen ihm jedoch, er wolle die Frauen wieder zurück an den Herd schicken, weil Firmen dann von vornherein weniger Frauen einstellen würden.

Die besten Chancen haben Frauen bei Grossfirmen wie Nissan und Shiseido, die Quotenziele gesetzt oder Förderprogramme aufgelegt haben, bei jungen Internetunternehmen oder ausländischen Firmen. Dort wird auch ein Schlenker im Lebenslauf akzeptiert. Suzuki arbeitete zuletzt bei zwei ausländischen Firmen. Doch sie musste erfahren, dass auch dort Frauen diskriminiert werden. Bei ihrem vorherigen Arbeitgeber, einer europäischen Firma, war sie zwar unbefristet und Vollzeit angestellt. Vor fünf Jahren aber begann ein japanischer Kollege sie zu belästigen. Schliesslich zeigte sie ihn bei der Personalabteilung an. Ein schwieriger Schritt immännerdominierten Japan, den sich in den letzten Jahren aber immer mehr Frauen trauen. Ihr damaliger Chef entliess den Mitarbeiter – aber legte auch ihr nahe, die Firma zu verlassen. Enttäuscht gab sie dem Druck nach. Suzukis Erfahrung ist kein Einzelfall: Kollegen und Vorgesetzte, die nach einem Trinkabend im Kollegenkreis oder bei der Betriebsfeier übergriffig werden, davon können viele Frauen erzählen. Die Reaktion fällt bei Männern wie Frauen ähnlich aus: «Der war halt betrunken.» Die Hierarchiegläubigkeit macht es für Frauen besonders schwer, sich zu wehren. Sie fürchten, gegenüber Ranghöheren als schwierig oder unhöflich zu gelten. Sie bezahlen einen hohen Preis.

Wie hoch er für eine Festanstellung sein würde, ahnte Tomoko Fujita nicht, als sie in einem Vorstellungsgespräch gefragt wurde, ob sie Alkohol trinke. Die junge Frau staunte, als ihr der neue Chef bald nach ihrem Einstand den ersten «Chuhai» auf den Tisch stellte, ein alkoholhaltiges Getränk. «Trink», sagte er im Befehlston. Fast jeden Tag sollte zu Geschäftsschluss wieder eine Dose auf ihrem Tisch landen. Nach Meetings gingen sie mit Kunden aus und tranken weiter, oft bis vier Uhr morgens. In einem Jahr habe sie acht Kilogramm zugenommen, sagt Fujita. Sie habe gedacht, sie müsse sich an ihre Arbeitsumgebung anpassen. Nicht selten enden diese Abende in Hostessenbars oder im Bordell, spätestens da ist es für Frauen mit dem abendlichen Networking vorbei. Es ist die Generation 50 und älter, die sich an die Blüte der japanischen Wirtschaft erinnert, gerne feiert und die Bürokultur weiterhin prägt. Wenn die alten Herren Beförderungen vergeben, dann gerne an Kollegen, die sie von Trinkgelagen kennen.

Tee- und Liftdamen

Das alles war Tomoko Fujita irgendwann zu viel. Sie beschloss, sich eine Auszeit zu nehmen. Die sehr kontrolliert wirkende Frau räumt erst nach einigem Zögern ein, dass sie mit ihrer jetzigen Stelle auf der Karriereleiter gleich mehrere Schritte abwärts gemacht habe. Sie jobbt als Assistentin in der Firma einer Freundin. Bei ihrer Umgebung stiess ihre Entscheidung, eine Auszeit zu nehmen, auf Unverständnis. Als sie sich mit ihren Sorgen an ihre Mutter wandte, meinte diese: «Aber es ist doch für alle hart!» Diese ist «sengyo-shufu», «Berufshausfrau». Viele Firmen weigerten sich vor wenigen Jahrzehnten, Frauen für qualifizierte Jobs einzustellen. Wenn Frauen arbeiteten, waren sie meist «Teedamen». Eine der wenigen bekannten Politikerinnen Japans, Mizuho Fukushima, die 1980 an der Eliteuniversität Todai ihren Abschluss machte, erzählt, dass von 24 Frauen unter den 600 Absolventen keine einzige ein Jobangebot erhalten habe. Noch Mitte der 1990er gab ein Drittel der japanischen Grossfirmen zu, keine Frauen einzustellen. Vom Vorbild ihrer Mütter geprägt – andere gibt es kaum –, lässt sich bei Japanerinnen im Alltag oft das Bedürfnis beobachten, anderen zu dienen. Es gilt als besonders höflich. Noch heute drängen sich deswegen Frauen, egal ob Zeitarbeiterin oder Managerin, im Lift vor die Knöpfe, wie die letzten verbliebenen Liftdamen in den Kaufhäusern. Frau nimmt sich zurück: Als ein Mann in einer Englischklasse die Antwort nicht weiss, will die jüngere Mitschülerin die Antwort nicht sagen, obwohl sie sie weiss: um ihn gut dastehen zu lassen. Und eine Büroangestellte, die sehr gut Deutsch spricht, telefoniert mit deutschsprachigen Kunden nur auf Englisch, weil sie ihr Wissen nicht zur Schau stellen will.

Frauen, die als fähig wahrgenommen werden, ernten bei denen, die nicht mitziehen, Unverständnis: Eine Kollegin habe sie einmal gefragt, warum sie so lange im Büro bleibe, erzählt die 31-jährige Bankangestellte Aiko Kato. Sie sei doch eine Frau und solle lieber ihren Körper wichtig nehmen. Mit anderen Worten: Frauen könnten ohnehin nicht so gut arbeiten wie Männer, sollten lieber schnell einen Heiratspartner finden. Nicht wenige Japanerinnen denken, dass sie erst eine Mutterschaft zur vollwertigen Frau mache. Mit dem Ende ihrer Ausbildung oder spätestens wenn sie das 30. Altersjahr überschreiten, entscheiden sich viele statt für die Fest anstellung lieber für einen anderen vermeintlich sicheren Hafen, jenen der Ehe. Auch 2013 geben noch rund 70 Prozent der Japanerinnen ihre Stelle auf, weil sie heiraten oder das erste Kind erwarten. Insofern kann man Suzukis Kollegen keinen Vorwurf für ihre Gratulationen machen. Jene Frauen, die doch zurückkehren, müssen laut einer OECD-Studie über 60 Prozent weniger Gehalt als ihre männlichen Kollegen in gleicher Position hinnehmen. Selbst eine Frau wie Suzuki, die immer ihr eigenes Geld verdient hat, findet Gehaltsunterschiede gerechtfertigt: «Die Männer müssen ja eine Familie ernähren.» Sich darüber aufzuregen, würde nichts bringen, weil sich das in Japan ohnehin auf absehbare Zeit nicht ändern werde, erklärt sie ihre Resignation.

Unverheiratete Mannweiber

Japans Arbeitswelt mit langen Arbeitszeiten und starren Geschlechterrollen trennt Männer und Frauen in zwei Sphären. Das geht zulasten beider Geschlechter: «Eine Gesellschaft, die für Frauen schlecht zum Leben ist, ist auch für Männer schlecht zum Leben», glaubt die Politikerin Mizuho Fukushima. Sie hält eine Quotenregelung für sinnvoll. Es gebe kaum Vorbilder für junge Frauen, an denen sich diese orientieren könnten. Doch es gibt sie: Bei einem Treffen von Vollzeit arbeitenden Müttern berichteten mehrere von Vorreiterinnen in ihren Betrieben. «Weil wir gesehen haben, dass die nach der Schwangerschaft zurückkamen, haben wir gedacht, das kriegen wir auch hin.» Auch die Bankangestellte Kato berichtet, dass es bei ihrer Bank keine Abteilungs- oder Filialleiterin gegeben habe, als sie vor acht Jahren dort angefangen habe. Jetzt seien einige Frauen in einer solchen Position. «Es ist allerdings besser, eine Frau ist schon verheiratet, wenn sie Abteilungsleiterin wird», sagt Kato. Dann gelte sie als perfekte Frau. «Eine Ledige wird danach keine Zeit mehr haben, sich einen Ehemann zu suchen, der akzeptiert, dass sie nicht viel Zeit für die Hausarbeit hat.» Dann werde es heissen, das «Mannweib» habe nur den Karrierepfad eingeschlagen, weil sie keinen Mann bekommen habe.

Alle Namen wurden auf Wunsch geändert.