Japan liebäugelt wieder mit Atomkraft

(Erschienen in: Wiener Zeitung, November 2014)

Sie erinnere sich noch an alle Schritte, wie ihr verstorbener Mann früher Stoff einfärbte, erzählt eine ältere Frau. Er stellte zum Beispiel farbenfrohe Fahnen für Boote her, die den Fischern einen reichen Fang bescheren sollten. Bei einem der wenigen Kurzbesuche in ihrem alten Zuhause in der Kleinstadt Futaba packte sie einige der gefärbten Tücher ein, um sie in ihrem neuen Zuhause aufzuhängen – einem Klassenzimmer in einer Schule in der Stadt Kazo, 200 Kilometer
südwestlich. Für die aus der Umgebung des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi Evakuierten bleibt ein „normaler“ Alltag in weiter Ferne.

1111 Tage lang sollte sie das Klassenzimmer mit mehreren anderen älteren Leuten teilen und unter Umständen ausharren, die der Filmemacher Atsushi Funahashi als nicht menschenwürdig beschreibt. In seinem neuen Film „Nuclear Nation II“, der Fortsetzung zu seiner Dokumentation „Nuclear Nation I“, die 2012 auf dem Filmfestival in Berlin lief, folgt er erneut früheren Bewohnern von Futaba, der Heimatgemeinde des nur fünf Kilometer entfernten Unglückskraftwerks Fukushima Daiichi.

Bald vier Jahre, nachdem ein Beben der Stärke 9,0 und haushohe Tsunami-Wellen zum schlimmsten Reaktorunglück seit Tschernobyl 1986 führten, leben noch immer mehr als 90.000 Menschen in Nordjapan in Behelfsunterkünften: weil der Wiederaufbau in den vom Tsunami betroffenen Gebieten nicht vorankommt, wegen der hohen Radioaktivität, oder aus beiden Gründen. Die Gefahr, die von den havarierten Reaktoren ausgeht, ist keineswegs gebannt. Weiter tritt Radioaktivität in die Luft und ins Grundwasser aus.

Es ist ungeklärt, ob nicht etwa schon das Erdbeben am 11. März 2011 die Katastrophe in Gang setzte. Trotzdem setzt die japanische Regierung weiter auf die Atomkraft. In ihrem aktuellen Energieplan ist sie eine wichtige Quelle für die Bereitstellung von Grundlaststrom. De facto ist Japan jedoch seit September 2013 völlig atomstromfrei; alle AKW sind zu Prüfzwecken heruntergefahren. Die Regulierungsbehörde für die Atomenergie (NRA) bearbeitet mit wachsender Verspätung mehr als ein Dutzend Anträge von Stromfirmen, die ihre Reaktoren wieder ans Netz bringen wollen, angeblich auf Basis der „strengsten Sicherheitsvorschriften der Welt“.

Zwei Reaktoren des AKW Sendai in der südjapanischen Präfektur Kagoshima sollen als Erste wieder hochgefahren werden. War dafür zunächst dieser Herbst angepeilt, wird es wohl frühestens im Frühjahr 2015 dazu kommen. Zwar haben inzwischen die lokale Gemeinde sowie der Gouverneur von Kagoshima zugestimmt. Andere Gemeinden in der Nähe lehnen den Plan jedoch völlig ab, die Katastrophenschutzmaßnahmen seien unzureichend. Hinzu kommt eine Gefahrenquelle, die bislang vernachlässigt wurde: Vulkanausbrüche. Seit Japans zweithöchster Vulkan Ontake Ende September ohne Vorzeichen ausbrach und mehr als 60 Menschen das Leben kostete, wird kontrovers über mögliche Risiken diskutiert. Der NRA-Vorsitzende Dr. Shunichi Tanaka sagte, dass man in den nächsten 30 Jahren keine größere Eruption in der Nähe des AKW Sendai erwarte.

„Wir Experten können diese Meinung nicht teilen“, sagte der emeritierte Professor Toshitsugu Fujii, einer der bekanntesten Vulkanologen Japans. „Wir können die Wahrscheinlichkeit eines Ausbruchs nicht 30 Jahre vorher voraussagen, nur
kurz davor.“ Und selbst das ist in manchen Fällen nicht möglich, wie im Fall von Ontake. Fujii warnte, dass zum Beispiel ein besonders heftiger Ausbruch des täglich mehrfach Asche und Gestein spuckenden Vulkans Sakurajima, nur 40 Kilometer entfernt, das AKW Sendai meterhoch mit Asche bedecken könnte. Und das ist nicht der einzige aktive Vulkan in der Nähe.

Doch für die Befürworter schienen wirtschaftliche Gründe wichtiger zu sein, sagt Fujii. Sie verweisen darauf, dass die gestiegenen Energieimporte die japanische Wirtschaft belasteten, dass durch die Wiederinbetriebnahme von Wärmekraftwerken der CO2-Ausstoß steige und erhöhte Strompreise den Firmen und Verbrauchern schadeten. Laut dem Institute of Energy Economics Japan, einem Think Tank, sei es sogar teurer, die Kraftwerke nicht zu betreiben, als alle laufen zu lassen.

Solche Gedanken sind für Shiro Izawa, den amtierenden Bürgermeister von Futaba, nachrangig. „Jeder muss bedenken, was in Fukushima Daiichi passiert ist. Bevor Reaktoren wieder angefahren werden, muss alles getan werden, um sicherzustellen, dass das nicht wieder passiert“, forderte er auf nach einer Filmvorführung von „Nuclear Nation II“ in Tokio. Er verhandelt derzeit mit der Regierung darüber, ob Teile der Gemeinde als Zwischenlager für radioaktiven Müll dienen dürfen. Es ist ein weiterer Schlag ins Gesicht für die früheren Bewohner. Was ihnen besonders bitter aufstößt, ist, dass der Strom, den das AKW vor ihrer Haustüre produzierte, an Tokio ging und sie selbst nie davon profitierten. Die Betroffenen fühlen sich ausgebeutet und mit fortschreitender Zeit dem Vergessen überlassen.

Auch mit ihrem Auszug auf der Notunterkunft in Kazo nach 1111 Tagen ist für die Futaba-Flüchtlinge die Rückkehr in einen „normalen“ Alltag kaum näher gerückt. Sie leben nun zwar nicht mehr in Klassenzimmern auf Reisstrohmatten,
sondern kleinen Behelfswohnungen. Doch jene wurden nach dem Desaster zu hurtig zusammengeschustert: Das Holz beginnt zu faulen, Verkleidungen schimmeln. Hinzu kommt die psychische Belastung mangels Privatsphäre, denn die Wände sind extrem hellhörig: „Wenn ich aufs Klo gehe und einen fahren lasse, möchte ich mich am liebsten beim Nachbarn in der Wohnung nebendran entschuldigen“, sagt eine Frau in „Nuclear Nation II“, die mit mehreren Frauen draußen vor solchen Unterkünften sitzt. Alle lachen wissend mit ihr.

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